Zurück ins echte Leben

Warum wir uns Zeit nehmen sollten, um unsere Sinne, unser Gedächtnis und uns selbst nicht zu verlieren
Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Ich habe über Jahrzehnte unzählige Stunden vor Bildschirmen verbracht. Als Mediengestalter, Webdesigner, Texter war der Rechner mein Werkzeug, mein Tor zur Welt – und gleichzeitig auch mein Gefängnis.
Zehntausende Stunden habe ich auf Pixel gestarrt. Ich habe E-Mails beantwortet, Webseiten gebaut, Texte korrigiert. Ich habe Programme zum Absturz gebracht, Rechner neu gestartet, Ladebalken verfolgt. Oft mit dem Gefühl: Ich arbeite pausenlos – aber am Ende des Tages bleibt kaum etwas Greifbares.
Das kennen viele: Die digitale Arbeit frisst unsere Zeit – und sie frisst mehr, als wir merken.
- Sie nimmt uns die Tiefe des Erlebens. Wir sehen zwar viel, aber wir schauen nicht mehr.
- Sie zersplittert unser Gedächtnis. Wir wissen, wo Informationen liegen, aber wir erinnern uns nicht mehr an Inhalte.
- Sie kostet unsere Gesundheit – Schlaf, Augen, Rücken, Nerven.
Digitale Medien sind Werkzeuge, keine Frage. Ohne sie wären viele Dinge, die wir heute tun, gar nicht möglich. Aber gerade bei digitalen Werkzeugen gilt: Wenn wir sie nicht bewusst einsetzen, übernehmen sie die Kontrolle. Das eigentlich Gefährliche ist, dass diese Entwicklung still und schleichend passiert. Niemand wacht morgens auf und denkt: Heute gebe ich mein Sinneserleben auf. Es passiert nebenbei, Tag für Tag, Klick für Klick, Tab für Tab. Und irgendwann merken wir: Das Leben ist ein Strom aus Benachrichtigungen geworden. Wir wissen viel, aber erleben wenig.
Was digitale Medien mit unseren Sinnen machen
Unsere Sinne sind dafür gemacht, die Welt in all ihrer Breite zu erleben – Farben, Gerüche, Geschmäcker, Berührungen, Klänge. Doch im digitalen Arbeitsalltag bleibt von diesem Reichtum wenig übrig. Am Bildschirm benutzen wir fast nur die Augen – und manchmal die Ohren, wenn ein Ton uns warnt oder Musik nebenher läuft. Aber Geruch, Geschmack, Tastsinn, Körperbewegung? Sie verkümmern. Unser Leben wird flach, zweidimensional, pixelig.
Überreizung statt Tiefe
Wir sind ständig von Informationen umgeben – und trotzdem selten wirklich aufmerksam. Schon die bloße Anwesenheit des Smartphones auf dem Schreibtisch verringert unsere kognitive Kapazität messbar. Das heißt: Auch wenn wir das Handy gar nicht benutzen, zieht es still und heimlich Energie ab.
Der Unterschied zwischen Sehen und Schauen
Nach langen Tagen vor dem Rechner war ein Spaziergang im Wald für mich manchmal wie eine Überdosis. Plötzlich waren da Gerüche, die ich nicht mehr kannte. Das Rascheln der Blätter war fast zu viel. Die Sonne im Gesicht – überwältigend. Es war, als hätte ich jahrelang nur in Grautönen gelebt und bekäme plötzlich die ganze Farbpalette zurück.
Lesen am Bildschirm – oberflächlicher
Untersuchungen zeigen deutlich: Das Medium, auf dem wir lesen, beeinflusst, wie wir Inhalte aufnehmen und behalten. Eine Meta-Analyse mit über 170.000 Teilnehmenden belegt, dass wir Sachtexte auf Papier besser verstehen und uns länger merken können – besonders dann, wenn die Lesezeit knapp ist [Delgado et al., 2018]. Auf Papier lesen wir gründlicher, tiefer, wir lassen uns mehr Zeit. Auf dem Bildschirm hingegen verfallen wir schneller in den Modus des Überfliegens.
Das hängt nicht nur mit der Technik zusammen, sondern auch mit unserer Haltung: Am Rechner oder auf dem Smartphone sind wir gewohnt, Informationen zu scannen, Schlagworte zu suchen, möglichst schnell von einer Quelle zur nächsten zu springen. Dieses „digitale Lesen“ schult uns in Geschwindigkeit – aber es kostet uns Tiefe. Wir erfassen weniger Zusammenhänge, wir verarbeiten Inhalte weniger kritisch, und wir erinnern uns später schlechter daran.
Wenn ich ehrlich bin, merke ich das an mir selbst: Ein längerer Fachartikel auf dem Bildschirm macht mich ungeduldig, meine Finger wollen scrollen. Ein Buch in der Hand hingegen lässt mich leichter zur Ruhe kommen, Satz für Satz, Seite für Seite. Papier zwingt zur Linearität – und genau das ist eine Chance für konzentriertes Denken.
Sinnliche Eintönigkeit
Auch die Materialien, die wir im digitalen Alltag berühren, sind erstaunlich monoton. Tag für Tag greifen wir nach denselben Oberflächen: Tastaturen, Kunststoffmäuse, glattes Glas von Smartphone und Tablet. Kalt, gleichförmig, austauschbar.
Vergleichen Sie das einmal mit der sinnlichen Vielfalt des Analogen: das raue Gefühl von Holz, der weiche Griff von Stoff, die kühle Frische von Erde im Garten, die Kruste eines frisch gebackenen Brotes. Jeder dieser Eindrücke aktiviert andere Rezeptoren, andere Erinnerungen, andere Emotionen. Genau diese Vielfalt nährt unser Gehirn und gibt unserem Alltag Farbe.
Neuropsychologen weisen darauf hin, dass multisensorische Erfahrungen – also Eindrücke, die mehrere Sinne gleichzeitig ansprechen – tiefere Spuren im Gedächtnis hinterlassen als monotone Wiederholungen. Ein Abendessen mit Freunden, bei dem wir Gerüche, Geschmäcker, Stimmen und Berührungen gleichzeitig erleben, prägt sich ganz anders ein als ein weiterer Tag voller Tastaturanschläge und Mausklicks.
Wenn wir uns zu oft mit digitalen Geräten begnügen, berauben wir uns dieser Fülle. Unser Leben wird glatter, ärmer an Eindrücken. Und genau darin liegt die Gefahr: Ohne Vielfalt stumpfen unsere Sinne ab – und mit ihnen unser Erleben von Welt.
Wie digitale Medien unser Gedächtnis und Denken verändern
Nach einem langen Arbeitstag am Rechner kenne ich das Gefühl: Mein Kopf ist voll – und gleichzeitig leer. Ich habe hunderte Dinge erledigt, gelesen, verschoben, beantwortet. Aber wenn ich am Abend gefragt werde: Was genau hast du heute gemacht? – dann fällt mir erstaunlich wenig ein. Dieses Paradox ist wissenschaftlich beschrieben.
Der „Google-Effekt“
Forscherinnen und Forscher sprechen hier vom sogenannten „Google-Effekt“. Gemeint ist ein Phänomen, das viele von uns täglich erleben: Sobald wir wissen, dass eine Information jederzeit digital abrufbar ist, investieren wir weniger Energie, sie uns selbst zu merken. Unser Gehirn speichert dann nicht mehr den Inhalt, sondern lediglich den „Pfad“ dorthin – die Quelle, den Speicherort, die Suchbegriffe. Praktisch ist das allemal, doch es hat eine Kehrseite. Wissen wird oberflächlicher, brüchiger. Wir verlieren eigene Wissensinseln, die uns früher Orientierung gegeben haben. An ihre Stelle tritt eine permanente Abhängigkeit von Geräten und Suchmaschinen – ein unsichtbares Outsourcing unseres Gedächtnisses.
Multitasking als Normalzustand
Ich ertappe mich oft dabei: drei offene Browserfenster, fünf Tabs, E-Mails, Slack, eine halbfertige Grafik. Und dann wundere ich mich, dass ich nicht vorankomme. Die Forschung ist hier eindeutig: Wer ständig zwischen Medien springt, trainiert sein Gehirn auf Oberflächlichkeit. Medien-Multitasker sind schlechter darin, Ablenkungen zu filtern und sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren.
Erinnerungen werden brüchig
Damit sich eine Erinnerung im Gehirn festigt, braucht es drei Dinge: Aufmerksamkeit, Emotion und Wiederholung. Im digitalen Alltag fehlen jedoch oft alle drei. Unsere Aufmerksamkeit ist zerrissen, weil ständig Benachrichtigungen aufpoppen oder neue Tabs locken. Emotion entsteht kaum, weil viele digitale Inhalte flach bleiben – ein kurzer Scroll, ein flüchtiges Like, ein weitergeleiteter Link. Und Wiederholung findet selten statt, weil wir Informationen sofort wieder durch neue ersetzen.
Das Resultat: Erlebnisse prägen sich nicht mehr tief ein, sondern zerfallen in Bruchstücke. Viele Tage verschwimmen später zu einem kaum unterscheidbaren Strom von Mails, Meetings und Nachrichten. Wir wissen noch, dass wir beschäftigt waren – aber nicht mehr, womit genau.
Neuropsychologen weisen darauf hin, dass unser Gedächtnis besonders dann stabil bleibt, wenn Informationen in eine Geschichte eingebettet werden oder mehrere Sinne beteiligt sind. Doch genau das fehlt im digitalen Konsum: Statt narrativer Tiefe gibt es fragmentarische Häppchen. So verlieren wir allmählich die Fähigkeit, innere Bilder und bleibende Erinnerungen aufzubauen.
Wenn das Denken verflacht
Ich merke an mir: Tiefes Lesen, konzentriertes Nachdenken – das fühlt sich manchmal an wie ein Muskel, den ich vernachlässigt habe. Aufmerksamkeit ist trainierbar. Aber sie verkümmert, wenn wir sie ständig zersplittern.
Nachrichtenflut und soziale Vergleiche
Neben Arbeit und Dauererreichbarkeit begleitet uns noch ein weiterer Strom: die täglichen Nachrichten und die sozialen Medien. Nie zuvor war es so einfach, jederzeit über jede Katastrophe, jeden Skandal, jede Krise informiert zu sein – und gleichzeitig die Erfolge und Glanzmomente anderer Menschen zu sehen. Das Problem: Medien berichten bevorzugt über das Negative. „If it bleeds, it leads“, heißt es im Journalismus. Für unser Gehirn bedeutet das: Wir leben in einer ständigen Alarmkulisse. Studien zeigen, dass negativer Nachrichtenkonsum Angst, Stress und depressive Symptome verstärken kann. Die Folge ist eine verzerrte Wahrnehmung: Wir sehen die Welt nicht in ihrer Vielfalt, sondern vor allem als eine Abfolge von Krisen.
Soziale Medien wiederum zeigen das andere Extrem: keine Katastrophen, sondern Highlights. Urlaubsfotos, berufliche Erfolge, festgehaltene Glücksmomente. Dagegen ist nichts einzuwenden – es ist menschlich, das Schöne zu teilen. Doch im ständigen Vergleich wirken die Alltage anderer glänzender als unser eigener. Studien belegen, dass diese sozialen Vergleiche das Selbstwertgefühl senken und Neidgefühle verstärken können.
So entsteht eine doppelte Verzerrung: Die Welt erscheint gefährlicher, als sie ist – und die Leben der anderen spannender, als sie tatsächlich sind. Die Lösung liegt nicht im Wegsehen oder Abschalten, sondern im bewussten Dosieren: Nachrichten zu festen Zeiten, soziale Medien mit Maß, ergänzt durch echte Gespräche und Dankbarkeit für das eigene Leben. Nur so behalten wir ein realistisches und gesundes Bild der Wirklichkeit.
Was digitale Medien mit unserer Gesundheit machen
Digitale Arbeit hinterlässt auch körperliche Spuren.
Schlaf unter Dauerbeschuss
„Nur noch kurz Mails checken …“ – dieser Satz ist der größte Schlafräuber unserer Zeit. Studien belegen, dass das blaue Licht von Displays die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin hemmt und unsere innere Uhr nach hinten verschiebt. Wir schlafen später ein, wachen nachts häufiger auf und fühlen uns am Morgen trotz acht Stunden im Bett wie gerädert. Dazu kommt die geistige Unruhe: Wer kurz vor dem Schlafen noch Nachrichten liest oder Videos konsumiert, trägt diese Inhalte mit ins Bett. Das Gehirn bleibt aktiv, statt in die Erholung zu gleiten. Guter Schlaf beginnt heute damit, abends rechtzeitig offline zu gehen.
Augen im Dauerstress
„Digital Eye Strain“ klingt abstrakt, ist aber längst Volkskrankheit. Unsere Augen sind darauf ausgelegt, ständig zwischen nah und fern zu wechseln. Am Bildschirm fixieren sie stundenlang eine nahe Ebene – dazu mit leuchtender Intensität. Wir blinzeln deutlich seltener, was die Augen austrocknen lässt. Das Ergebnis: Brennen, Kopfschmerzen, verschwommenes Sehen. Auf Dauer kann auch die Fähigkeit, in der Ferne scharf zu stellen, leiden. Schon kleine Routinen helfen: bewusst öfter blinzeln, regelmäßig in die Ferne schauen, Tageslicht nutzen. Unsere Augen brauchen Abwechslung – genauso wie unser Geist.
Rücken, Nacken, Haltung
Wer lange am Rechner sitzt, kennt das: Kopf nach vorne, Schultern rund, Nacken verhärtet. Diese Haltung wird inzwischen „Tech-Neck“ genannt. Das Gewicht des Kopfes lastet dabei schwer auf der Halswirbelsäule. Über Jahre führt das zu Schmerzen, Verspannungen, manchmal auch Bandscheibenproblemen. Studien zeigen jedoch: Schon kurze Bewegungspausen und gezieltes Krafttraining wirken besser als Schonung oder Medikamente. Es geht darum, Muskeln zu stärken, die Haltung zu öffnen, die Wirbelsäule wieder aufzurichten. Eine Minute Dehnen pro Stunde ist mehr wert als ein teurer Bürostuhl, wenn man es regelmäßig macht.
Sitzen als Krankmacher
Sitzen gilt heute als „das neue Rauchen“. Und tatsächlich: Langes unbewegtes Sitzen erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und sogar für bestimmte Krebsarten. Selbst sportliche Menschen sind nicht automatisch geschützt – wer tagsüber zehn Stunden sitzt, kann das mit abendlichem Joggen nur teilweise ausgleichen. Entscheidend ist Bewegung im Alltag: Gehen, Treppensteigen, kleine Wege nutzen. Eine große Metaanalyse zeigt: Nur wer täglich mindestens eine Stunde moderate Aktivität einbaut, kann die Risiken wirksam abfedern. Es geht nicht um Höchstleistung, sondern um Regelmäßigkeit – unser Körper ist für Bewegung gemacht, nicht für Dauersitzen.
Stress als Grundrauschen
Digitale Arbeit bedeutet für viele: immer erreichbar, immer auf Abruf. Selbst in der Freizeit bleibt das Handy in Reichweite, das Postfach im Hinterkopf. Diese permanente Bereitschaft erzeugt ein Grundrauschen von Stress, das wir kaum noch bewusst wahrnehmen – weil es längst zum Normalzustand geworden ist. Doch der Körper spürt es: Der Puls bleibt höher, die Stresshormone sinken nicht ab. Auf Dauer macht das müde, gereizt und anfällig für Krankheiten. Wahre Erholung entsteht erst, wenn wir uns wirklich entkoppeln: ein paar Stunden ohne Benachrichtigungen, ohne E-Mails, ohne den Druck, sofort reagieren zu müssen.
Wie wir uns unser Leben zurückholen
Die gute Nachricht: Es gibt Auswege. Kein radikaler Rückzug, sondern kleine Schritte.
Qualität statt Geschwindigkeit
Digitale Arbeit lebt von Tempo: Deadlines, Updates, Reaktionszeiten. Wir rennen im Takt der Maschinen – und merken dabei kaum, dass Geschwindigkeit selten Glück bringt. Wert entsteht dort, wo wir uns Zeit lassen. Wer schon einmal einen Holztisch abgeschliffen oder ein Brot langsam gehen lassen hat, kennt dieses Gefühl: Der Prozess ist wichtiger als das Ergebnis. Qualität wächst aus Geduld, aus Hingabe, aus Wiederholung. Es ist die Aufmerksamkeit im Tun, die uns bereichert, nicht das Häkchen auf der To-do-Liste. In einer Kultur der Beschleunigung wird bewusstes Verlangsamen zum Akt der Selbstfürsorge.
Achtsamkeit als Gegengewicht
Achtsamkeit bedeutet nicht, sich im Schneidersitz auf ein Kissen zu setzen – sie beginnt viel einfacher: bei der Tasse Kaffee, die man bewusst trinkt; bei der Musik, die man wirklich hört; beim Gespräch, dem man ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Das ist radikal in einer Welt, die Multitasking belohnt. Studien belegen: Schon wenige Minuten täglicher Achtsamkeit senken Stress und steigern Wohlbefinden. Aber noch wichtiger: Sie bringen uns zurück ins Hier und Jetzt. Achtsamkeit schenkt Tiefe, wo vorher Oberflächlichkeit war – und macht selbst kleine Handlungen zu erfüllenden Momenten.
Handwerk, Kochen, Garten
Etwas mit den Händen zu schaffen, ist ein Gegengift zur Entkörperlichung der digitalen Arbeit. Holz bearbeiten, Gemüse schneiden, Erde umgraben – das sind Tätigkeiten, die uns erden, buchstäblich. Sie sind langsam, aber gerade darin liegt ihre Kraft: Man kann einen Teig nicht schneller gehen lassen oder ein Holzbrett nicht im Eiltempo hobeln. Sie fordern Geduld, Präsenz, Geschick. Und sie schenken das unersetzbare Gefühl, etwas Echtes geschaffen zu haben. Handwerk, Kochen, Gärtnern sind nicht nur Hobbys, sondern Übungen in Achtsamkeit, Sinnlichkeit und Selbstwirksamkeit. Sie geben uns ein Stück Wirklichkeit zurück, das kein Bildschirm ersetzen kann.
Ikigai – Sinn im Kleinen
Ikigai, dieser japanische Begriff für „das, wofür es sich zu leben lohnt“, wird oft als große Lebensformel dargestellt. Doch Ikigai beginnt im Alltag. Es kann das gute Gefühl sein, einen Text fertiggestellt zu haben, den jemand versteht. Oder die Freude, einem Menschen zuzuhören und spürbar zu helfen. Ikigai lebt in Momenten, die Sinn stiften – egal ob bezahlt oder nicht. Für mich steckt Ikigai auch im kreativen Arbeiten: wenn Gestaltung, Sprache und Begegnung zusammenkommen. Wer Ikigai im Kleinen sucht, findet leichter auch im Großen Sinn. Denn Sinn entsteht nicht erst am Ziel, sondern schon im Tun.
Natur als Rückzugsort
Die Natur ist mehr als Kulisse. Sie ist ein Resonanzraum, der uns wieder spüren lässt, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind. Schon zwanzig Minuten im Grünen verbessern nachweislich Aufmerksamkeit und Stimmung. Der Wind im Gesicht, das Rauschen der Blätter, der Geruch von Erde – all das wirkt wie ein Reset für Körper und Geist. Wichtig ist: nicht als Leistung, nicht mit Schrittzähler oder Fitness-App. Sondern als einfaches Dasein. Die Natur verlangt nichts, sie bietet nur: Stille, Vielfalt, Weite. Und genau das macht sie zu einem der stärksten Gegenmittel gegen digitale Überlastung.
Flow in der digitalen Zeit
Bei all der Kritik an Bildschirmen und Informationsfluten möchte ich eines nicht vergessen: Die digitale Arbeit kann auch beglücken. Es gibt Momente, in denen ich beim Konzipieren, Gestalten, Texten oder Programmieren in einen Zustand komme, den Psychologen „Flow“ nennen. Flow – das ist dieses völlige Aufgehen in einer Tätigkeit. Die Zeit verliert an Bedeutung, die Gedanken fließen, Kreativität und Konzentration verschmelzen. Ich empfinde das als unglaublich bereichernd. Gerade in meinen Coachings erlebe ich, wie dieser Zustand Gespräche trägt: Wenn Menschen sich öffnen, Ideen entwickeln, plötzlich in Bewegung kommen.
Hier verbindet sich für mich Flow mit Ikigai – dem japanischen Konzept vom Sinn im Leben. Mein Ikigai liegt genau dort: im kreativen Arbeiten mit Menschen, im Gestalten von Texten, Konzepten, Medien. Darin, wenn aus Chaos Klarheit wird. Doch ich weiß auch: Flow in der digitalen Welt hat seine Tücken. Er kann uns verschlingen. Ich kann stundenlang in Codestrukturen abtauchen, in Textversionen, in Pixelarbeit – und dabei das Körperliche, das Sinnliche, das Einfache vergessen. Dann wird aus Flow leicht Überarbeitung.
Die Kunst liegt für mich in der Ausgewogenheit:
- Flow zulassen, wo er Kreativität und Sinn schenkt.
- Aber rechtzeitig herauszutreten – in Bewegung, in Gespräche, in die Natur.
- Flow nicht nur am Bildschirm erleben, sondern auch beim Kochen, Musizieren, im Handwerk, im Austausch mit anderen.
So wird Flow nicht zum Käfig, sondern zur Kraftquelle. Er bleibt Teil meines Ikigai – eingebettet in ein Leben, das auch außerhalb von Projekten und Pixeln Tiefe hat.
Fazit
Wenn ich all das Revue passieren lasse, merke ich: Es geht nicht darum, digitale Medien zu verteufeln. Sie sind Teil meines Berufs, meines Alltags, ja meines Lebens. Aber ich will nicht länger zulassen, dass sie mein Denken, meine Sinne und meine Gesundheit dominieren.
Das ist leichter gesagt als getan. Ich ertappe mich noch oft dabei, in alte Muster zu rutschen – zu lange am Bildschirm, zu spät ins Bett, zu viele offene Tabs. Aber genau deshalb brauche ich Orientierungspunkte. Kleine, klare Schritte, an denen ich mich festhalten kann.
Es sind keine heroischen Taten, sondern einfache Gewohnheiten, die ich Stück für Stück in meinen Alltag einbauen möchte. Manche gelingen sofort, andere brauchen Übung. Aber jeder Schritt bedeutet: ein Stück Lebensqualität zurückgewinnen.
10 Schritte zurück ins echte Leben
1. Smartphone entmachten – außer Sichtweite, wenn Sie arbeiten.
2. E-Mails bündeln – 2–3 Mal pro Tag reicht.
3. Tief arbeiten – oberflächlich pausieren – 30–50 Minuten Fokus, dann 5–10 Minuten Pause.
4. Abend ohne Bildschirm – 1 Stunde vor Schlaf Geräte aus.
5. Augenpflege – 20-20-20-Regel, öfter blinzeln.
6. Körper bewegen – jede Stunde aufstehen; 3×/Woche Krafttraining.
7. Sinnliche Pausen – riechen, schmecken, fühlen.
8. Handwerk & Kochen – regelmäßig etwas Greifbares schaffen.
9. Naturzeit – 3×/Woche 20 Minuten ohne Ablenkung.
10. Ikigai-Momente suchen – kleine Sinnquellen im Alltag erkennen.
Ich weiß: Ich selbst lebe noch nicht alles davon. Oft erwische ich mich abends mit dem Handy in der Hand, statt in ein Buch zu schauen. Aber ich habe mir ein Versprechen gegeben: Ich will mein Leben wieder mit Qualität füllen. Weniger Pixel, mehr Berührung. Weniger Ablenkung, mehr Aufmerksamkeit. Weniger Hektik, mehr Sinn. Denn am Ende zählt nicht, wie viele Tabs wir offen hatten. Es zählt, wie viele Momente wir wirklich gelebt haben.
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