Warum Erfahrung im KI-Zeitalter nicht verschwindet – sondern neu gefragt ist
Ich bin gelernter Mediengestalter. Wobei: Als ich angefangen habe, hieß das noch „Druckvorlagenhersteller“. Mein Einstieg ins Berufsleben war handwerklich geprägt. Filme, Dunkelkammer, Belichtungen, manuelle Korrekturen. Fehler waren sichtbar, oft endgültig – und Genauigkeit war Voraussetzung. Technik war kein Selbstzweck, sondern Werkzeug. Dann kamen die Linotype-Satzmaschinen. Groß, teuer, komplex. Wer sie beherrschte, galt als gesetzt. Und auch damals war klar: Technik bestimmt den Takt – sie bleibt nicht stehen.
Mit Desktop Publishing folgte der nächste Bruch. Plötzlich standen Mac-Rechner in den Betrieben. PageMaker, später QuarkXPress und InDesign. Viele hielten das für Spielerei, andere für den Untergang des Berufs. Tatsächlich war es beides nicht. Es war eine Verschiebung der Anforderungen: weniger reine Technikbeherrschung, mehr Denken in Struktur, Layout und Wirkung.
Irgendwann wurde mir klar: Technik ändert nicht nur Werkzeuge – sie ändert Richtungen. Ich habe mich damals bewusst entschieden, nicht nur mitzuhalten, sondern tiefer zu verstehen, was da passiert. Ich habe an der Bayerischen Akademie der Werbung studiert, mich mit Kommunikation, Strategie und Marktmechanismen beschäftigt – und mich schließlich selbständig gemacht.
Es folgten weitere Umbrüche: digitale Bildbearbeitung, Web, Online-Kommunikation, Social Media, Video, KI. Technisch ein Quantensprung – inhaltlich blieb die Frage dieselbe: Was wirkt? Was trägt? Was ist relevant?
Heute arbeite ich vorwiegend als Business Coach und Berater für Unternehmer. Ich begleite Menschen, die mitten im Wandel stehen – strategisch, strukturell, oft auch persönlich. Und ich sehe dabei immer wieder dieselben Muster, die mich durch meine eigene Laufbahn begleitet haben. Neue Technik erzeugt Unsicherheit. Nicht, weil Menschen unfähig wären. Sondern weil unklar ist, welche Rolle sie darin noch spielen. Genau an diesem Punkt stehen heute viele Menschen über 50.
Was viele über 50 beschäftigt – aber selten offen sagen
Wenn Menschen über 50 heute über ihre berufliche Zukunft nachdenken, schwingt oft ein Gedanke mit, den kaum jemand laut ausspricht: Was, wenn die Technik mich überholt? KI, Automatisierung, digitale Prozesse – das klingt in Nachrichtensendungen oft abstrakt. Im Alltag wird es konkret: Software übernimmt Routinen. Prozesse werden umgestellt. Kommunikationswege ändern sich. Und irgendwo zwischen „Ich sollte mich damit befassen“ und „Ich habe gerade keine Zeit dafür“ wächst ein unangenehmes Gefühl. Diese Sorge ist nachvollziehbar. Sie ist menschlich. Aber sie ist – bei genauerem Hinsehen – nur die halbe Wahrheit. Denn der Wandel ist real. Nur: Er bedeutet nicht automatisch Verdrängung. Er bedeutet vor allem Verschiebung.
Was KI wirklich verändert – und was nicht
Ein Punkt wird in vielen Debatten verzerrt dargestellt: Es verschwinden selten ganze Berufe. Häufiger verändern sich Aufgabenpakete innerhalb eines Berufs. Genau so argumentiert die OECD seit Jahren: Automatisierung zielt typischerweise auf bestimmte Tätigkeiten – meist routinierte, standardisierbare Aufgaben – nicht auf komplette Rollen. Das ist eine gute Nachricht. Aber auch eine Aufforderung. Wer seine Arbeit nur als Berufstitel beschreibt, bleibt im Nebel. Wer sie als Bündel konkreter Tätigkeiten versteht, kann steuern.
Ein einfaches Denkmodell
Job = Bündel aus Aufgaben
Stellen Sie sich nicht zuerst die Frage: „Ist mein Beruf gefährdet?“
Sondern:
- Welche Teile meiner Arbeit sind repetitiv?
- Wo ist Urteilskraft gefragt?
- Wo Beziehung, Erfahrung, Einordnung?
Denn KI ist stark bei:
- Text- und Informationsverarbeitung
- Zusammenfassungen, Varianten, Entwürfen
- Mustererkennung in Daten
- Routine-Workflows
Und schwach oder riskant bei:
- Verantwortung in unklaren Situationen
- Beziehungen, Konflikten, Vertrauen
- Kontextverständnis „zwischen den Zeilen“
- nicht dokumentiertem Praxiswissen
- echten Vor-Ort-Tätigkeiten (Handwerk, Pflege, Technik im Feld)
Diese Unterscheidung ist nicht romantisch. Sie ist nüchtern – und sehr hilfreich.
Warum Erfahrung gerade wieder wichtiger wird
Deutschland altert. Fachkräfte fehlen. Wissen geht in Rente. Das ist keine gefühlte Wahrheit – das ist messbar.
- Das Statistische Bundesamt zeigt die wachsende Bedeutung älterer Erwerbstätiger.
- KOFA weist weiterhin auf erhebliche Fachkräftelücken hin.
- DIHK-Befragungen machen deutlich, wie sehr Unternehmen unter Wissensverlust leiden.
Erfahrung wird dort besonders wertvoll, wo Unternehmen nicht nur Arbeitskraft verlieren, sondern:
- Prozesswissen
- Kundenverständnis
- Fehlervermeidung durch Intuition
- stabile Kommunikation
- gelernte Krisenfähigkeit
Das sind Felder, in denen viele Menschen über 50 naturgemäß mehr mitbringen als jemand, der erst wenige Jahre im Beruf ist.
KI als Hebel – nicht als Gegner
Die Forschung ist hier erstaunlich klar: KI kann Produktivität und Qualität steigern – aber nicht bei allen gleich.
Studien zeigen:
- Bei wissensbasierten Aufgaben sinkt die Bearbeitungszeit deutlich.
- Weniger erfahrene Mitarbeitende profitieren besonders – KI wirkt dort wie eine Starthilfe.
Das entgiftet die Debatte: KI ist weder Wunderwaffe noch Jobkiller. Sie ist ein Werkzeug, dessen Wirkung vom Kontext abhängt.
Wer KI klug nutzt, wird nicht ersetzt.
Eher wird ersetzt, wer sie ignoriert – oder blind einsetzt.
Welche Rollen wachsen – gerade für Menschen in der Lebensmitte
Schaut man nicht auf Berufsbezeichnungen, sondern auf Bedarfe, zeigen sich klare Felder:
- Schnittstellenrollen – Zwischen Fachbereich, Technik, Kunden, Teams. Übersetzung, Priorisierung, Einordnung.
- Qualität und Prozesssicherheit – Gerade mit KI steigt der Bedarf an Menschen, die prüfen, nachschärfen und Verantwortung übernehmen.
- Weitergabe von Wissen – Mentoring, Onboarding, Projektbegleitung. Lernen wird zur Schlüsselkompetenz.
- Arbeit am Menschen – Beratung, Pflege, Bildung, Führung, Handwerk mit Kundenkontakt. Vertrauen lässt sich nicht automatisieren.
Der blinde Fleck: Unsicherheit ist oft kein Technikproblem
Viele sagen: „Ich muss mich mit KI beschäftigen.“ Und meinen eigentlich: „Ich brauche wieder Orientierung.“ Gerade über 50 geht es nicht darum, alles mitzumachen – sondern sinnvoll zu wählen.
Was hilft:
- Aufgaben sortieren statt Tools sammeln
- ein kleines, klares KI-Set
- klare Qualitätsregeln
- wenige, konkrete Anwendungsfälle
- Lernen als Routine, nicht als Kraftakt
15 Minuten pro Woche reichen oft aus – wenn sie konsequent sind.
Ein leiser Ausblick
Ja, KI verändert Arbeit. Ja, manches wird weniger gebraucht. Aber der Bedarf an Menschen mit Überblick, Verantwortung, Erfahrung und Haltung steigt. Wenn Sie Ihre Optionen einmal strukturiert sortieren wollen – ohne Drama, ohne Selbstoptimierungs-Zirkus – kann ein klarer Gesprächsrahmen helfen. In meiner Arbeit nutze ich dafür strukturierte Analyseformate; als erste Orientierung kann auch der ChancenReport 50+ dienen – nicht als Heilsversprechen, sondern als Startpunkt.
Quellen
- OECD – Employment Outlook: Artificial Intelligence and Jobs – 2023 (oecd.org)
- OECD – The Risk of Automation for Jobs (Arntz et al.) – 2016 (oecd.org)
- KOFA – Fachkräftereport – 2025 (kofa.de)
- DIHK – Fachkräftesicherung 2024/2025 (dihk.de)
- Destatis – Erwerbstätigkeit älterer Menschen – 2024/2025 (destatis.de)
- IAB – Ältere Arbeitskräfte im demografischen Wandel – 2024 (iab.de)
- World Economic Forum – Future of Jobs Report – 2025 (weforum.org)
- Noy & Zhang – Productivity effects of generative AI – 2023 (science.org)
- Brynjolfsson, Li, Raymond – Generative AI at Work – 2023/2025 (nber.org)